14.08.2025, Adrian Kuqi, Lesezeit: 10 Minuten
Einleitung
Zwischen 1914 und 1918, im Schatten des Ersten Weltkriegs, ereigneten sich auf dem westlichen Balkan zahlreiche Massaker an albanischen Zivilisten. Unter serbischer, montenegrinischer, bulgarischer und griechischer Besatzung wurden ganze Dörfer zerstört, Zehntausende Menschen getötet, vertrieben oder dem Hungertod überlassen. Diese Gewaltakte waren keine zufälligen Nebenerscheinungen des Krieges, sondern Teil einer gezielten Politik, die auf ethnische Säuberung und politische Kontrolle abzielte.
Die Erinnerung an diese Massaker hat im kollektiven Gedächtnis der Albaner bis heute einen festen Platz. Sie prägt nicht nur das nationale Selbstverständnis, sondern beeinflusst auch das Verhältnis zwischen den Völkern der Region. Die historische Aufarbeitung ist daher nicht nur ein akademisches Anliegen, sondern auch ein Beitrag zur Verständigung und zur Versöhnung in Südosteuropa.
Bereits in den Balkankriegen von 1912–1913 waren albanische Gemeinschaften Ziel systematischer Gewalt geworden. Die Massaker und Vertreibungen jener Jahre bildeten den düsteren Vorläufer zu den Verbrechen, die im Ersten Weltkrieg eine neue Dimension der Brutalität erreichten.
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Kapitel 1: Historischer Kontext
Die Massaker an Albanern im Ersten Weltkrieg lassen sich nicht verstehen, ohne den Blick auf die Ereignisse der unmittelbaren Vorkriegszeit zu richten. Bereits während der Balkankriege von 1912–1913 erlebten albanische Gebiete eine Welle extremer Gewalt. In den umkämpften Regionen des heutigen Kosovo, Nordmazedoniens, Montenegros und Nordalbaniens wurden Hunderte Dörfer systematisch niedergebrannt. Zeitgenössische Berichte sprechen von mehr als 120.000 getöteten Albanern und bis zu 300.000 Vertriebenen. Die Gewalt ging dabei weit über das hinaus, was als kriegerische ‚Begleiterscheinung‘ gelten könnte – sie folgte einem Muster gezielter ethnischer Säuberung.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verschärfte sich die Lage dramatisch. Der westliche Balkan wurde zum Durchmarschgebiet rivalisierender Armeen, und Albanien – 1912 gerade erst seine Unabhängigkeit erklärt – war politisch instabil und militärisch wehrlos. Unterschiedliche Besatzungsmächte, darunter das Königreich Serbien, Montenegro, Bulgarien und Griechenland, nutzten die Machtvakuumsituation, um ihre territorialen Ansprüche mit Gewalt zu untermauern. Für die albanische Bevölkerung bedeutete dies eine Fortsetzung und zugleich Eskalation der Verfolgung, die sie bereits in den Balkankriegen erlitten hatte.
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Kapitel 2: Tatbestände während des Ersten Weltkriegs
Die Massaker an der albanischen Bevölkerung während des Ersten Weltkriegs ereigneten sich in einem weiten geografischen Bogen, der vom Kernland Albaniens über den Kosovo bis nach Vardar-Mazedonien reichte. Diese Gebiete waren im Verlauf des Krieges wiederholt Schauplatz von Frontbewegungen, Besetzungen und strategischen Rückzügen. In jeder dieser Phasen geriet die Zivilbevölkerung zwischen die Fronten – und wurde zugleich gezielt zur Zielscheibe militärischer Gewalt.
Räumlicher Überblick
Die schwersten Übergriffe fanden in drei Hauptregionen statt:
• Albanien, insbesondere im Norden und in Mittelalbanien, wo serbische und montenegrinische Truppen in den Jahren 1914–1915 weite Landstriche besetzten.
• Kosovo, das bereits 1912 unter serbische Kontrolle geraten war und im Krieg sowohl serbische als auch bulgarische Besatzung erlebte.
• Vardar-Mazedonien, wo in den albanisch bewohnten Gebieten – etwa um Kërçova und Tetova – bulgarische Truppen zwischen 1915 und 1918 zahlreiche Übergriffe verübten.
Verantwortliche Streitkräfte
Mehrere Armeen und Besatzungsmächte waren an den Gräueltaten beteiligt:
• Serbische und montenegrinische Truppen führten zwischen 1913 und 1915 groß angelegte ‚Säuberungsaktionen‘ durch, bei denen Dörfer niedergebrannt und Zivilisten exekutiert wurden.
• Bulgarische Truppen kontrollierten ab 1915 Teile des Kosovos und Mazedoniens. Sie gingen gegen die albanische Bevölkerung vor, indem sie Nahrungsmittel beschlagnahmten, Männer zwangsrekrutierten und ganze Gemeinden deportierten.
• Griechische Streitkräfte besetzten im Süden Albaniens (Nord-Epirus) albanische Ortschaften und setzten dort Repressionen gegen die Zivilbevölkerung durch, darunter Festnahmen, Vertreibungen und Zerstörungen.
Art der Verbrechen
Die dokumentierten Taten umfassten ein breites Spektrum schwerer Kriegsverbrechen:
• Massaker an Männern, Frauen und Kindern, oft als Vergeltungsmaßnahmen oder zur Einschüchterung der Bevölkerung.
• Brandstiftungen und die systematische Zerstörung ganzer Dörfer, um Rückkehr unmöglich zu machen.
• Künstlich herbeigeführte Hungersnöte, indem Ernten und Vieh beschlagnahmt wurden.
• Zwangsvertreibungen ganzer Gemeinden in Nachbargebiete oder Lager.
• Ethnische Säuberung, mit dem erklärten Ziel, albanisch bewohnte Regionen zu entvölkern und durch andere ethnische Gruppen zu ersetzen.
Zahlen und Opfer
Die Opferzahlen sind schwer genau zu beziffern, doch albanische Quellen sprechen von über 350.000 Toten im Zeitraum 1913–1921. Davon:
• Rund 200.000 durch serbische und montenegrinische Gewalt zwischen 1913 und 1915.
• Etwa 50.000 durch bulgarische Truppen in den Jahren 1915–1918.
• Zwischen 85.676 und über 100.000 Opfer allein im Kosovo, von 1913 bis 1921.
Hungertote
Besonders verheerend war die von Besatzungstruppen ausgelöste Hungersnot in Albanien. Schätzungen zufolge starben allein im Jahr 1915 rund 150.000 Menschen an Unterernährung und Krankheiten, nachdem Getreidevorräte beschlagnahmt und Transportwege blockiert worden waren. In manchen Regionen wurden ganze Gemeinden ausgelöscht, ohne dass ein einziger Schuss gefallen war – allein durch Hunger und Entbehrung.
Diese Tatsachen verdeutlichen, dass die Massaker im Ersten Weltkrieg nicht als isolierte Gewalttaten zu sehen sind, sondern als Teil einer koordinierten Strategie, die auf die Zerstörung der albanischen Gesellschaftsstruktur in mehreren Regionen des Balkans abzielte.
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Kapitel 3: Regionale Fälle und Fallstudien
Die Massaker an der albanischen Bevölkerung während des Ersten Weltkriegs lassen sich nicht nur in großen Zahlen erfassen, sondern auch in einer Vielzahl konkreter Fallbeispiele, die die Dimension und die Brutalität dieser Gewalt verdeutlichen. Historische Berichte und Zeitzeugenaufzeichnungen zeichnen das Bild einer systematischen Vernichtungspolitik, die in vielen Regionen gleichzeitig umgesetzt wurde.
Zerstörung von 132 albanischen Dörfern (1912–1915)
Zwischen den Balkankriegen und den ersten Kriegsjahren wurden allein in den serbisch und montenegrinisch besetzten Gebieten des heutigen Kosovo und Nordalbaniens 132 albanische Dörfer vollständig zerstört. Die Zerstörung erfolgte meist nach demselben Muster: Plünderung, Niederbrennen der Häuser, Tötung oder Vertreibung der männlichen Bevölkerung im kampffähigen Alter, Deportation von Frauen, Kindern und Alten. Ziel war nicht nur die kurzfristige militärische Kontrolle, sondern die dauerhafte Entvölkerung albanischer Siedlungsräume.
Kërçovë (Vardar-Mazedonien)
Ein besonders gut dokumentierter Fall ist die Stadt Kërçovë und ihre albanisch geprägte Umgebung in Vardar-Mazedonien. Nachdem bulgarische Truppen 1915 die Kontrolle über das Gebiet übernommen hatten, begannen sie mit der systematischen Unterdrückung der lokalen Bevölkerung. Neben willkürlichen Festnahmen und Erschießungen war vor allem die Ernährungspolitik ein Mittel der Repression: Bulgaren beschlagnahmten die Getreideernte – vor allem Weizen – und transportierten sie in andere Landesteile oder ins Ausland, um ihre eigenen Truppen und Verbündeten zu versorgen. Die Folge war eine lokale Hungersnot, der Hunderte Menschen zum Opfer fielen. In zeitgenössischen Berichten wird von ganzen Familien gesprochen, die in ihren Häusern verhungerten, während die beschlagnahmten Lebensmittel in Militärzügen abtransportiert wurden.
Kosovo und Nordalbanien
Im Kosovo setzten sich die Massaker, die bereits in den Balkankriegen begonnen hatten, während des Ersten Weltkriegs unvermindert fort. Städte wie Gjakovë, Pejë und Prizren erlebten wiederholte Besatzungswechsel zwischen serbischen, montenegrinischen und später auch bulgarischen Truppen. Jede neue Besatzungsmacht führte ihre eigenen ‚Säuberungsaktionen‘ durch, oft begleitet von öffentlichen Hinrichtungen, Plünderungen und Brandstiftungen. In den Dörfern um Mitrovicë und Ferizaj wurden viele männliche Dorfbewohner deportiert oder hingerichtet, während Frauen und Kinder vertrieben wurden.
Südalbanien und Nordepirus
Auch der Süden Albaniens, insbesondere die Region Nordepirus (um Gjirokastër und Korçë), wurde von Repressionen geprägt. Unter griechischer Kontrolle kam es zu willkürlichen Festnahmen, Schließungen von albanischen Schulen und der Zerstörung kultureller Einrichtungen. Ganze Gemeinden wurden beschuldigt, ‚feindliche Elemente’ zu beherbergen, und mussten ihre Häuser verlassen.
Ein Muster der Gewalt
Obwohl die Täter und Besatzungsmächte wechselten, ähnelte sich das Vorgehen in allen Regionen auffallend: gezielte Ausschaltung der männlichen Bevölkerung, Zerstörung der wirtschaftlichen Lebensgrundlagen, Einsatz von Hunger als Waffe und erzwungene Migration. Diese Taten führten nicht nur zu einem immensen demografischen Verlust, sondern zerstörten auch die soziale Struktur der betroffenen Gemeinschaften für Jahrzehnte.
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Kapitel 4: Nachwirkungen und Erinnerung
Die Folgen der Massaker an Albanern im Ersten Weltkrieg waren tiefgreifend und prägten das politische, soziale und kulturelle Leben der betroffenen Regionen über Jahrzehnte hinweg. Die Gewalt führte nicht nur zu immensen Verlusten an Menschenleben, sondern veränderte auch dauerhaft die Bevölkerungsstruktur und das Verhältnis zwischen den Ethnien auf dem westlichen Balkan.
Vertreibung und Flüchtlingselend
Hunderttausende Menschen verloren während der Kriegsjahre ihr Zuhause. Ganze Dörfer waren niedergebrannt oder verlassen, die Felder verwüstet, das Vieh geplündert. Viele Überlebende flohen ins Ausland – nach Italien, in das Osmanische Reich oder nach Übersee –, während andere als Binnenflüchtlinge in notdürftigen Lagern oder bei Verwandten in entlegenen Gebieten Unterschlupf suchten. Die infrastrukturelle und wirtschaftliche Zerstörung führte zu einer Destabilisierung der Region, die auch nach Kriegsende anhielt. Hunger, Krankheiten und Armut bestimmten das Leben derer, die in ihre Heimat zurückkehrten, oft nur um festzustellen, dass ihr Besitz verloren oder von anderen in Beschlag genommen worden war.
Politische Reaktionen
Trotz der dramatischen Lage drang die Realität der Massaker nur langsam in die internationale Öffentlichkeit. Albanische Politiker und Aktivisten wie Hasan Prishtina versuchten, die Verbrechen zu dokumentieren und vor ausländischen Regierungen darzulegen. Berichte wurden unter anderem an die britische Regierung übermittelt, um Unterstützung für den Schutz der albanischen Bevölkerung zu gewinnen und die territoriale Integrität Albaniens zu sichern. Auch Hilfsorganisationen wie das Amerikanische Rote Kreuz machten auf das Ausmaß der Hungersnot aufmerksam. Dennoch blieb eine umfassende internationale Aufarbeitung aus – nicht zuletzt, weil die politischen Interessen der Großmächte die Wahrnehmung der Ereignisse überschatteten.
Langzeitfolgen
Die Massaker des Ersten Weltkriegs sind fest in das kollektive Gedächtnis der Albaner eingegangen. Sie gelten als Fortsetzung der Gewaltwelle, die bereits in den Balkankriegen begonnen hatte, und als Mahnung an die Verwundbarkeit der Nation in geopolitischen Krisen. In der albanischen Geschichtsschreibung nehmen diese Ereignisse einen zentralen Platz ein, oft verknüpft mit dem Ruf nach nationaler Einheit und Selbstbehauptung. Auf internationaler Ebene fanden die Gräueltaten zwar punktuell Anerkennung, doch blieben sie im globalen Diskurs über Kriegsverbrechen und Genozid des 20. Jahrhunderts weitgehend im Schatten anderer historischer Tragödien.
Für Albanien selbst aber sind sie ein unverzichtbarer Bestandteil des nationalen Narrativs – ein Kapitel, das sowohl Schmerz als auch Widerstandskraft symbolisiert und bis heute in Gedenkveranstaltungen, Schulbüchern und der politischen Rhetorik präsent ist.
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Kapitel 5: Fazit
Die Massaker an Albanern im Ersten Weltkrieg können nicht isoliert betrachtet werden, sondern stehen in einer klaren Kontinuität zu den Ereignissen der Balkankriege (1912–1913). Bereits in diesen Jahren hatten serbische, montenegrinische und griechische Truppen großangelegte Operationen gegen die albanische Zivilbevölkerung durchgeführt – mit Massenhinrichtungen, Zwangsvertreibungen und der Zerstörung ganzer Dörfer. Der Übergang von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg brachte keine Atempause, sondern markierte vielmehr die Fortsetzung eines Musters systematischer Gewalt. Die Methoden blieben ähnlich: gezielte Entvölkerung, Einsatz von Hunger als Kriegswaffe, Vernichtung wirtschaftlicher Lebensgrundlagen und die Ersetzung der lokalen Bevölkerung durch ethnisch ‚loyalere‘ Gruppen.
Im größeren historischen Rahmen lässt sich diese Gewalt in die globale Geschichte von Kriegsverbrechen und Genozid einordnen. Zeitlich fallen die Massaker an Albanern in dieselbe Epoche wie andere große Gewalttaten des 20. Jahrhunderts, darunter der Völkermord an den Herero und Nama (1904–1908) in Deutsch-Südwestafrika oder der Armenische Genozid im Osmanischen Reich (1915–1917). Auch wenn die politischen Kontexte und Auslöser unterschiedlich waren, zeigen sich vergleichbare Strukturen: die Instrumentalisierung ethnischer Feindbilder, die systematische Entmenschlichung ganzer Bevölkerungsgruppen und der Einsatz staatlicher beziehungsweise militärischer Ressourcen zur Durchführung groß angelegter Vernichtungsaktionen.
Die Massaker an Albanern wurden zwar international weniger beachtet als andere zeitgenössische Verbrechen, doch ihre Charakteristika – gezielte Auslöschung einer ethnischen Gruppe aus strategischen, territorialen und ideologischen Motiven – erfüllen wesentliche Kriterien, die später in der Genozidforschung als definierend anerkannt wurden. Ihre vergleichende Betrachtung macht deutlich, dass sie Teil einer globalen Entwicklung waren, in der der Erste Weltkrieg als Katalysator für radikale, gewaltsame ‚Lösungen‘ ethnischer und politischer Konflikte fungierte.