Die Vertreibung der Albaner zwischen 1830 und 1878

22.04.2025, Adrian Kuqi, Lesezeit: 5 Minuten

Einleitung

Im langen 19. Jahrhundert war Europa geprägt vom Aufstieg der Nationalstaaten. Während Frankreich, Deutschland und Italien ihre Grenzen durch Kriege und Verhandlungen neu ordneten, geschah die nationale Formierung auf dem Balkan unter besonders blutigen Vorzeichen. Im Schatten des zerfallenden Osmanischen Reiches entstanden Staaten wie Serbien, Montenegro und Bulgarien – oft begleitet von ethnischer Säuberung. Besonders stark betroffen: die muslimischen Albaner, deren Vertreibung zwischen 1830 und 1878 eine bis heute tief wirkende Zäsur darstellt.

1. Der Beginn: Autonomie Serbiens und die erste Vertreibungswelle (1830–1876)

Hintergrund

Nach dem Zweiten Serbischen Aufstand (1815) wurde Serbien 1830 als autonomes Fürstentum innerhalb des Osmanischen Reichs anerkannt. Angeführt von Fürst Miloš Obrenović (reg. 1815–1839, 1858–1860) strebte Serbien eine ethnisch serbisch-orthodoxe Identität an. Muslime – vor allem albanischer Herkunft – wurden fortan als Fremdkörper betrachtet.

Frühe Maßnahmen:
• Bereits 1832 ließ Fürst Miloš verkünden, dass alle Albaner in Serbien, die nicht gegen die Osmanen gekämpft hätten, geschlagen werden sollten.
• Der lokale Kommandeur Milosav Zdravković erhielt den Befehl, albanische Häuser zu „kaufen“, um die Bewohner zu vertreiben.
• In der Praxis bedeutete dies: Zwangsverkäufe unter Androhung von Gewalt, Enteignungen, Pogrome und systematische Vertreibung.

Demografische Struktur

Vor den Vertreibungen machten Nicht-Serben rund 15 % der Bevölkerung aus:
• Albaner (hauptsächlich Muslime, teils auch katholisch)
• Roma
• Vlachen (Timok-Rumänen)
• Türken

Besonders stark waren Albaner in Westserbien und im Morava-Tal vertreten.

Zahlen und Fakten:
• Zwischen 1830 und 1876 wurden laut moderner Schätzungen bis zu 150.000 Albaner aus dem Fürstentum Serbien vertrieben.
• Dies entspricht nahezu der vollständigen Entfernung der muslimischen Bevölkerung aus dem jungen serbischen Staat.
• Ihre Häuser wurden zerstört, Moscheen niedergebrannt oder in Kirchen umgewandelt.

2. Der serbisch-osmanische Krieg und die zweite Vertreibungswelle (1877–1878)

Krieg als Mittel zur “Vollendung”

Als Serbien 1876 dem Osmanischen Reich den Krieg erklärte, ging es nicht nur um nationale Befreiung, sondern um die territoriale Expansion nach Süden. Unterstützt von Russland griff Serbien 1877 den Sandschak von Niš an – ein Gebiet mit hoher albanisch-muslimischer Bevölkerung.

Sandschak von Niš – multikulturelles Erbe, militärisches Ziel
• Städte wie Niš, Prokuplje, Leskovac, Kuršumlija, Vranje waren Zentren albanischer Kultur.
• Die serbische Armee unter General Jovan Belimarković marschierte ein – begleitet von christlichen Milizen, die systematisch Dörfer niederbrannten, Bewohner ermordeten oder verjagten.
• Ganze Dörfer wie Gjakova e Toplicës verschwanden von der Landkarte.

Methoden der Vertreibung
• Vergewaltigungen, öffentliche Hinrichtungen, Plünderungen
• Zwangsflucht im Winter ohne Nahrung oder Unterkunft
• Zerstörung religiöser Stätten (z. B. Moscheen in Kuršumlija, Leskovac)
• In vielen Fällen gezielte Massaker – wie z. B. in Toplica, wo Dutzende Zivilisten in Moscheen verbrannt wurden

3. Opferzahlen und Fluchtbewegungen

Wie viele wurden vertrieben?
• Mindestens 60.000–130.000 Albaner wurden 1877/78 aus dem Sandschak von Niš, Pirot, Leskovac und Umgebung vertrieben.
• Insgesamt beläuft sich die Zahl der vertriebenen Albaner zwischen 1830 und 1878 auf bis zu 280.000.

Wie viele starben?
• Die meisten Zahlen über Tote sind Schätzungen, da viele Menschen auf der Flucht umkamen.
• Zwischen 5.000 und 15.000 Albaner sollen getötet worden sein – durch Massaker, Hunger oder Erfrieren.
• Viele Überlebende starben an Krankheiten in Flüchtlingslagern im Kosovo und Mazedonien.

4. Der Berliner Kongress 1878: Internationale Legitimierung des Unrechts

Konferenz der Großmächte

Der Berliner Kongress (Juni–Juli 1878) – organisiert von Otto von Bismarck – sollte den „Frieden von San Stefano“ revidieren. Dabei wurden unter anderem:
• Serbiens Grenzen erweitert, insbesondere um den Sandschak von Niš
• Montenegro anerkannte Gebietsgewinne zugesprochen

Was fehlte? Die Albaner.
• Kein albanischer Vertreter war eingeladen.
• Albanische Petitionen wurden ignoriert.
• Bismarck erklärte: „Es gibt keine albanische Nation“.

Ergebnis:
• Die ethnische Säuberung wurde völkerrechtlich abgesegnet.
• Rückkehrrechte oder Entschädigungen wurden nicht gewährt.

5. Die Muhaxhirë – das albanische Exil in Kosovo und Mazedonien

Die Vertriebenen wurden als Muhaxhirë (albanisch für „Vertriebene, Flüchtlinge“) bekannt.

Ziele der Flucht:
• Kosovo (Prishtina, Ferizaj, Gjilan, Prizren)
• Mazedonien (Skopje, Tetovo, Kumanovo)
• Nordalbanien (Shkodra, Tropoja)

Lebensbedingungen:
• Mangel an Nahrung, Obdach, medizinischer Versorgung
• Viele starben an Unterkühlung, Hunger und Seuchen
• Familien lebten in Zelten oder bei Verwandten, teilweise jahrelang

Folgen:
• Verstärkung des albanischen Nationalbewusstseins
• Beteiligung vieler Muhaxhirë an der Liga von Prizren (1878)
• Bis heute prägen sie die soziale und politische Struktur des Kosovo

6. Persönlichkeiten

• Miloš Obrenović – Fürst Serbiens, initiierte erste Zwangsumsiedlungen
• Jovan Ristić – serbischer Außenminister, Architekt der Balkanpolitik
• Jovan Belimarković – General, verantwortlich für die ethnische Säuberung in Niš
• Sami Frashëri – albanischer Intellektueller, kritisierte die Ereignisse und forderte nationale Rechte
• Ali Hadri – Historiker, schätzte erstmals systematisch die Opferzahlen

Fazit: Eine verdrängte Katastrophe

Die Vertreibung der Albaner zwischen 1830 und 1878 war keine Randerscheinung, sondern ein zentraler Bestandteil der serbischen Staatsgründungspolitik. Sie war strategisch geplant, brutal umgesetzt und international abgesegnet. Hunderttausende verloren ihre Heimat – Tausende ihr Leben. Die Spätfolgen wirken bis heute nach: im kollektiven Gedächtnis des albanischen Volkes, im ethnopolitischen Konflikt um Kosovo – und in den offenen Wunden einer Region, die niemals wirklich geheilt wurde.